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Im Grunde gut oder die Umkehrung des Delegations-Paradigmas

20.08.2020

Mit großer Begeisterung habe ich vor einigen Wochen das Buch IM GRUNDE GUT von Rutger Bregmann (Rowohlt Verlag) gelesen. In diesem Buch geht es im Kern um die Frage, ob der Mensch, das Gute, das Soziale, Mitfühlende und Verantwortungsvolle in sich trägt oder ob er von Macht, Habgier, Egoismus und einem geringen Interesse an der Übernahme von Verantwortung getrieben wird. Im Kapitel „Die Kraft der inneren Motivation" reflektiert er das Thema aus einer Management- und Führungsperspektive.

Im Rahmen der Diskussion um New Work, Agilität und verantwortungsvollem unternehmerischen Handeln stellt sich in diesem Zusammenhang immer mehr die Frage, ob wir mit den tradierten Macht- und Führungsstrukturen in Unternehmen und Organisationen, den ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen von heute und morgen gerecht werden?

In unseren Beratungs-, Trainings- und Coachingaktivitäten erleben wir in den Diskussionen, dass es genau diese Strukturen sind, die die Anpassungsfähigkeit, Innovationskraft und verantwortungsvolles Unternehmertum verhindern. Brauchen wir also eine radikale Umkehrung des Führungs- und Delegations-Paradigmas? Wie wäre es denn, wenn wir die Pyramide umdrehen und die Mitarbeiter entscheiden lassen, wann und zu welchen Themen sie Führung brauchen?

Oft hören wir von Managern den Satz: Ich würde ja gerne mehr Verantwortung an meine Mitarbeiter abgeben, aber ich habe den Eindruck, dass meine Mitarbeiter nur ungern Verantwortung übernehmen und lieber klare Vorgaben haben wollen. Darüber hinaus fehlt oftmals die strategische und übergreifende Perspektive der handelnden Akteure. Ein echtes Dilemma?

Das englische Wort Response-Ability, bringt dieses vermeintliche Dilemma sehr gut auf den Punkt! Verantwortung ist demnach eine Fähigkeit! Fähigkeiten kann man erlernen. Aus meiner Perspektive tragen die bekannten Organisationsstrukturen maßgeblich dazu bei, dass die Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen verkümmert. Das von Frederick Taylor entwickelte Prinzip der Teilung von Denken, Handeln und Entscheiden, wirkt hier wie ein Turbo!

Gesellschaftliche und unternehmerische Krisensituationen zeigen immer wieder, dass Menschen Verantwortung übernehmen wollen und können. Gerade in diesen Krisensituationen läuft unsere Spezies oftmals zu Höchstleistungen auf. Denken Sie nur an die Flüchtlingskrise im Jahre 2015 oder an den verantwortungsvollen Umgang im Zeichen der Corona Pandemie. Erst kürzlich erzählte mir eine Führungskraft im Coaching, dass er unglaublich überrascht sei, wie eigenständig, verantwortungsvoll und mitdenkend seine Mitarbeiter aus dem Home-Office agieren. Etwas überspitzt könnte man formulieren, dass die Abwesenheit von Management im Sinne des Prinzips von Command & Control dazu führt, dass Mitarbeiter zu Mit-Unternehmern werden.

Die Umkehrung des Delegations-Paradigmas

Im klassischen Organisationsmodell (Funktionale Organisation oder Matrixorganisation) entscheiden Manager darüber, welche Aufgaben an Mitarbeiter delegiert werden und welche nicht. Die Entwicklung einer neuen Organisationsstruktur, das Budget für die nächsten Sales Aktivitäten oder das neue Bonussystem. In der Regel handelt es sich hier (fairer Weise muss man sagen, werden hier zum Teil Experten und Mitarbeiter eingebunden) um Top Down Entscheidungen.

Stellen wir uns nun folgende Situation vor:

Ihr Bereich ist Bestandteil einer bestehenden Organisationsstruktur mit definierten Führungshierarchien, Verantwortlichkeiten und Teams mit den dazugehörigen Mitarbeitern. Im Rahmen dieses Szenarios würden Sie als Bereichsleiter Ihrem Team „verkünden", dass sie als Mitarbeiter oder als Team zukünftig darüber befinden, welche Themen von ihnen als Führungskraft entschieden werden sollen und welche nicht. Lassen Sie diesen Gedanken ein bisschen wirken und versetzen Sie sich in Lage des Mitarbeiters und der Führungskraft. Was würde passieren? Wie schätzen Sie Reaktionen von Mitarbeitern und Führungskräften ein? Was würde sich verändern? Welche Fragen würden auftreten?

Wir wissen, dass Entscheidungen in der Regel nicht digital, im Sinne von ich entscheide als Führungskraft alles oder ihr als Team alles, getroffen werden. Die Sieben Stufen der Delegation (In Anlehnung an Delegation Poker von Jürgen Appelo management3.0) machen die unterschiedlichen Optionen vom Grad der Delegation deutlich:

1. Tell: Ich entscheide allein und teile dir/euch meine Entscheidung mit.
2. Sell: Ich entscheide allein und werde versuchen dich/euch von meiner Entscheidung zu überzeugen.
3. Consult: Ich entscheide allein, werde aber vorher Meinungen einholen.
4. Agree: Wir entscheiden gemeinsam.
5. Advise: Ich gebe Empfehlungen und du/ihr entscheidest/entscheidet.
6. Inquire: Du/ihr entscheidest/entscheidet allein, aber ich werde mich nach eurer Entscheidung erkundigen.
7. Delegate: Du/ihr entscheidest/entscheidet komplett allein. Ich delegiere vollständig.

Würden wir nun wie diskutiert das Delegation-Paradigma umdrehen, würde dies bedeuten, dass wir als Team in der Stufe 1 dir unsere Entscheidung mitteilen. In Stufe 7 wäre dies der umgekehrte Fall! Das Team delegieren eine zu treffende Entscheidung komplett an die Führung.

Ich hätte folgende Hypothesen zu Reaktions- und Verhaltensmustern:

  • Mitarbeiter und Führungskräfte würden lernen mit Verantwortung und den damit verbundenen Entscheidungen „verantwortungsvoll" umzugehen
  • Flankierende Rahmenbedingungen und Spielregeln sind ein wichtiger Bestandteil einer neuen/anderen Führungskultur
  • Leadership wird vor diesem Hintergrund neu gedacht und ist nicht mehr an eine formale Position gebunden
  • Die Qualität von Entscheidungen würde mittelfristig deutlich gesteigert werden
  • Führungskräfte würden sich mehr mit den Themen auseinandersetzen, die eine übergeordnete Relevanz haben
  • Führungskräfte würden sich zu echten Coaches ihrer Mitarbeiter entwickeln
  • Mitarbeiter entwickeln sich mehr und mehr zu Mitunternehmern

Fazit

Eine schrittweise Umkehrung des Delegations-Paradigmas würde dem jeweiligen Reifegrad der Organisation gerecht werden. Es untermauert ein Menschenbild, welches auf Vertrauen und der Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen basiert. Mittelfristig würde sich die Qualität von unternehmerischen Entscheidungen deutlich verbessern. Die Rolle von Führung im Sinne des Gedankens eines „Servant Leaders" würde gestärkt und Entscheidungen werden dort getroffen, wo es am sinnvollsten ist.

Autor: Norbert Esters

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